Жестокой ценой Правда, 23 декабря 1988

    Lachno, I.: Жестокой ценой Правда, 23 декабря 1988


Zugehöriger Essay:
Stephan Merl: Glasnost' und die gesellschaftliche Ausarbeitung des stalinistischen Terrors
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Glasnost' und die gesellschaftliche Aufarbeitung des stalinistischen Terrors[1]

Von Stephan Merl

Der Terror unter Stalin hat mehr als zehn Millionen Menschenleben gefordert. Anders als in Deutschland steht eine ernsthafte gesellschaftliche Aufarbeitung dieser schrecklichen Ereignisse in Russland dennoch bis heute aus. Nach Stalins Tod gab es kein Diktat von Siegermächten, das der politischen Klasse eine Rechtfertigung über ihre Tätigkeit unter der Diktatur Stalins abverlangt hätte. Ebensowenig forderte bisher die Bevölkerung, etwa der deutschen Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre vergleichbar, eine öffentliche Debatte über Stalins Verbrechen. In der Sowjetunion behielten vielmehr die Mittäter das Heft des Handelns in der Hand. Sie bestimmten die Regeln der „Entstalinisierung“ unter Chruschtschow und ließen sich dabei von ihren machtpolitischen Interessen leiten. Sie entschieden selbst, welche Fragen zugelassen waren. Erst unter dem Einfluss von Gorbatschows Glasnost' („Transparenz“) wurde es Ende der 1980er Jahre möglich, öffentlich über den Terror zu sprechen und Einzelschicksale zu rekonstruieren. Das mangelnde Interesse der sowjetischen Gesellschaft an der Aufarbeitung der Verbrechen hat nicht zuletzt seine Ursache darin, dass es nicht nur die Millionen Opfer des Terrors gab, sondern eine mindestens gleich große Zahl von Tätern. Und nicht anders als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg richtete sich das primäre Interesse der Überlebenden nicht auf die Aufklärung der Verbrechen.

Warum habe ich gerade den Zeitungsartikel „Der grausame Preis“ des Pravdakorrespondenten I. Lachno aus dem Jahr 1988 als Quelle ausgewählt, um diese Problematik zu erörtern? Ausschlaggebend war die Vielschichtigkeit der Aussage. Dieser Text vermittelt Aufschlüsse über die gegenwärtige Einstellung in Russland zu den Verbrechen Stalins, er präsentiert ein Einzelschicksal, das Einblicke in typische Züge des „Alltags des Terrors“ unter Stalin zulässt, damit eröffnet der Text indirekt auch Vergleichsmöglichkeiten zum Nationalsozialismus und schließlich setzt er sich auch kritisch mit der dominierenden Position in der Historiografie über den Stalinismus auseinander. Der Artikel von Lachno fiel mir im Herbst 1988 eher zufällig bei der abendlichen Zeitungslektüre in die Hände. Ich hatte mich auch damals schon mehr als ein Jahrzehnt mit Stalins Terror befasst, die gewaltige Zahl der Opfer war mir wohl vertraut. Und dennoch traf mich diese an und für sich banale Geschichte eines einfachen und „kulturlosen“ Bauern wie ein Schlag. Sein Schicksal spiegelt die typischen Züge von Stalins Terrorregime und die unergründliche Willkür, mit der es zuschlug. Dennoch darf und will ich der berechtigten quellenkritischen Frage nicht ausweichen: Hat sich der Vorfall überhaupt so abgespielt, oder präsentiert uns Lachno einfach eine literarische Fiktion? Ich muss gestehen, dass ich bisher nicht in die heutige Ukraine gereist bin, um den Fall in den dortigen Archiven zu rekonstruieren. Dort müsste es die Akte des Untersuchungsverfahrens mit dem Urteilsspruch geben. Ebenso müsste eine Akte über Kapinos „Führung“ in den Lagern existieren. Über das eigentliche Opfer Kapinos würden wir aus diesen Akten aber kaum etwas erfahren. Während meiner mittlerweile jahrzehntelangen Beschäftigung mit Stalins Terror habe ich entsprechendes Archivmaterial immer wieder in der Hand gehabt, ebenso Archivakten zur Überprüfung von Urteilen der Stalinzeit sowie zur Rehabilitierung von Opfern. Dennoch habe ich nicht gezögert, gerade auf diesen Artikel zurückzugreifen. Es ist Lachnos Verdienst, uns einen Einzelfall plastisch sowohl in seiner ganzen Banalität als auch Grausamkeit vor Augen zu führen. Alle geschilderten Handlungsabläufe kann ich aus meiner Kenntnis des Archivmaterials als gesichert und „typisch“ identifizieren. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass es sich um Fiktion handeln sollte, bliebe der Text immer noch eine Quelle zur Beurteilung der Glasnost'-Politik.

Ein aufmerksamer Beobachter der russischen Entwicklung in den letzten Jahren wird das Entstehen dieses Textes unschwer in die Anfangsphase von Gorbatschows „Glasnost'„ auf die Jahre 1988 und 1989 verorten. Weder davor noch danach hätte eine zentrale Zeitung so einen Artikel abgedruckt. Und die Prawda war auch 1988 keine beliebige Zeitung, sondern das Zentralorgan der Kommunistischen Partei der Sowjet­union. Nur zu diesem Zeitpunkt trafen sich zwei Faktoren: die Bereitschaft der Herrschenden, unbequeme Fragen über die Geschichte der Sowjetunion in der Öffentlichkeit zuzulassen, und die Neugier der Beherrschten zu erfahren, was wirklich geschehen war. Das öffentliche Interesse an den Enthüllungen über die Verbrechen Stalins erreichte im Herbst 1988 seinen Höhepunkt. Es ließ zugleich alte Wunden aufbrechen. Aus den Leserzuschriften an die Presse ist abzulesen, dass sich auch Jahrzehnte nach Stalins Tod an der Unversöhnlichkeit der Position von Tätern und Opfern – bzw. ihrer Kinder und Enkel – noch immer nichts geändert hatte. Hielten die einen Stalins Taten für notwendig zur Kräftigung des Landes und seine Opfer für schuldig, klagten die anderen über das erlittene und nicht entschädigte Unheil. Die unvermeidliche, von Gorbatschow aber nicht vorhergesehene Konsequenz der Glasnost' war angesichts der Ungeheuerlichkeit von Stalins Verbrechen die totale Diskreditierung und Delegitimierung der Herrschaft der Kommunistischen Partei und damit das Auseinanderfallen der Sowjetunion. Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass es zunächst die breite Öffentlichkeit war, die an der Wende zu den 1990er Jahren das Interesse an weiteren Enthüllungen verlor. Für sie rückte wieder der tägliche Überlebenskampf in den Vordergrund, der mit der Einleitung der Systemtransformation immer neue Herausforderungen schuf. Doch auch die Herrschenden kehrten sich von der Glasnost' ab, nachdem diese in Widerspruch zu ihren Machtinteressen geriet. Rückblickend können wir feststellen, dass Jelzin die Abkehr theatralisch inszenierte, als er im Oktober 1993 das „Weiße Haus“ – das russische Parlament – in Brand schießen ließ, weil er keine Lust hatte, mit den gewählten Volksvertretern zu sprechen und Kompromisse zu schließen. Seither läuft alles wieder seinen geregelten Gang. Die Volksvertreter werden unter Putin bereits vor der Wahl handverlesen, und die Schulbücher über die Russische Geschichte hat der Präsident, formal gestützt auf die Forderungen der „Veteranen“, wieder von der „Beschmutzung“ Stalins befreit.

Lachno hat seinen Artikel über den „Konterrevolutionär“ Kapinos bewusst als Anklage gegen die dominierende Position in der Historiografie über die Stalinzeit verfasst. Die Erklärung des Stalinismus aus der Dumpfheit und Rückständigkeit der Bevölkerung, die sich dem „zivilisatorischen Bemühen“ der Bolschewiki entgegenstellte, ist nicht nur in Russland verbreitet. Die „Dumpfheit“ der Bevölkerung spiegelte sich in der Tat in dem Glauben an Volksfeinde. Die Inszenierungen des Systems, die in zentralen und lokalen Schauprozessen gipfelten, in denen von den Mängeln des Systems abgelenkt und generell eine Personalisierung der Schuldfrage vorgenommen wurde, verschafften der personalen Diktatur Stalins eine gewisse Stabilität und Legitimation. Das Volk tendierte in seiner Masse dazu, die ihm präsentierten Sündenböcke als die Schuldigen zu akzeptieren, so wie es in der politischen Kultur des „Zarenmythos“ angelegt war: egal, ob es sich um Spitzenpolitiker wie die Geheimdienstchefs Jagoda und Jeschow handelte, um lokale Leitungspersonen und Fabrikdirektoren, oder eben um Leute aus der eigenen Mitte, wie hier den Kolchosnik Kapinos. Doch trug deshalb das Volk die Schuld an den Verbrechen? Neben der Ansicht, das niedrige Kulturniveau der Bevölkerung selbst sei schuld am Terror gewesen, ist bis heute die Meinung weit verbreitet, die Suche nach Fehlern sei moralisch schädlich und untergrabe die Bedeutung der Leistungen Stalins.

Der Text ist auch ein Dokument über den Alltag unter Stalin. Im Vergleich mit dem Nationalsozialismus scheint der Terror unter Stalin allumfassender und unkalkulierbarer gewesen zu sein. Eine ähnlich generelle Atmosphäre des Misstrauens, die in jedem Volksgenossen zunächst einen potentiellen „Volksfeind“ erblickte und in der selbst führende Repräsentanten des Systems immer wieder unter erfundenen Anschuldigungen verhaftet und ermordet wurden, hat es in Deutschland nicht gegeben. Die Verhaftung war in Deutschland auch eher eine individuelle Abrechnung. Sie zielte nicht in jedem Fall auf den „Nachweis“ einer Verschwörung und hatte im Regelfall nicht die Isolation der Angehörigen zur Folge.

Der hier beschriebene Vorfall von Anfang 1938 ist zeitlich in die Phase des „Großen Terrors“ einzuordnen, in der praktisch jeder ein potentielles Opfer darstellte und generell nicht von Einzeltätern ausgegangen wurde, sondern in den Untersuchungsverfahren immer Verschwörungen zu konstruieren waren. So skurril zunächst einmal die Kopie von Stalins Geste durch den Helden der Geschichte, Feodosij Kapinos, erscheint, so typisch ist die Reaktion. Die Meldung des Vorfalls löste zwangsläufig die sofortige Verhaftung des Beschuldigten aus und brachte ein Untersuchungsverfahren in Gang, an dessen Ende nur die Präsentation einer Verschwörungsgeschichte stehen konnte. Die Rahmenschilderung macht deutlich, dass den Interessen der Staatsmacht in der Situation Anfang des Jahres 1938 die Aufdeckung eines „Volksfeindes“ in dieser Region sehr zupass kam, gab es doch offenbar Probleme mit der Erfüllung der Ablieferungsverpflichtungen von Agrarprodukten durch die lokalen Kolchose an den Staat. Ein willkommener Nebeneffekt dieser Verhaftung war somit, dass sie die übrigen Kolchosniki einschüchterte und disziplinierte. Das Ausmaß dieser grauenhaften Atmosphäre, in der man dem anderen nicht trauen konnte, wird dadurch unterstrichen, dass auch der Täter, der lokale Kolchosparteisekretär, um sein Leben fürchten musste, wenn nicht er, sondern ein anderer den Fall zur Anzeige brachte. Ein Volksfeind zu sein oder einen Volksfeind zu decken war in den Augen des Staates das Gleiche.

Die weitere Schilderung des Falles offenbart wiederum Typisches: nun begann der Terrorapparat in der Vergangenheit des Beschuldigten zu wühlen. Die zu präsentierende Vita eines Volksschädlings war ähnlich standardisiert wie früher die Heiligenviten. Dass Kapinos nicht beschuldigt wurde, der Sohn eines Kulaken zu sein, stellte sicherlich einen Schönheitsfehler dar. Doch auch so wurde man in seiner Vergangenheit fündig: So wurde Kapinos Weigerung im Jahre 1934, der Anordnung nachzukommen, die am Rotz erkrankten Pferde zu erschießen, nun als Vorwand genommen, um ihn einer Verschwörergruppe zuzuordnen und ihm zu unterstellen, als Gehilfe der Volksschädlinge die Seuche verbreitet zu haben.

Die These von Lachno, der von ihm geschilderte Fall sei ein Mosaikstein für das Verständnis der damaligen Zeit, ist wohlbegründet. Während Kapinos mit seinem „Zehnjahresspruch“, einem damals üblichen Strafmaß für zur Zwangsarbeit verurteilte „Konterrevolutionäre“, in dem berüchtigten Lagerkomplex von Kolyma verschwand, in dem das Regime Häftlinge zur Goldgewinnung einsetzte, begann die Leidenszeit für Kapinos Frau und Kinder. Dass die anderen Dorfbewohner mit ihnen den Kontakt abbrachen und sie isolierten, war ein typisches Schutzverhalten in der Stalinzeit. Da grundsätzlich angenommen wurde, dass es keine Einzeltäter, sondern nur Angehörige von Verschwörungsringen gab, konnte der Kontakt zu Angehörigen von Volksfeinden einen selbst in Gefahr bringen.

Auch die Schilderung des Denunzianten fällt in der Beschreibung echt aus. Was bewog den Kolchosparteisekretär, seinen ehemaligen Spielkameraden nun als Konterrevolutionär zu entlarven? Sicherlich, es gab auch Fälle, in denen die eigennützigen Motive auf der Hand liegen. Das war hier aber nicht der Fall. Handelte er aus seinem Verständnis von Pflichtgefühl? War die vom Regime zu diesem Zeitpunkt entfachte allgemeine Hysterie ausschlaggebend? Oder fürchtete er um das eigene Überleben im Fall einer Nichtanzeige? Der Täter wird als „guter Mensch“ geschildert, als einer, der sich um die Leute kümmerte, der den ersten Kindergarten organisierte, der sich freiwillig an die Front meldete und dort den Heldentod starb. Das unterstreicht die auch von Kapinos selbst bestätigte tragische Verstrickung der Personen unter diesem Regime.

Und schließlich die Rückkehr aus dem Lager, das beharrliche Schweigen über das Erlebte. Auch das ist typisch für die große Masse der Lagerheimkehrer, wie hätte sonst das Tabu einer öffentlichen Diskussion von der Rückkehr überlebender Häftlinge Mitte der 1950er Jahre bis 1988 Bestand haben können? Bei der Entlassung wurde allen eingeschärft, über das in den Lagern Erlebte nicht zu sprechen. Und die meisten hielten sich daran. Sie kehrten ähnlich wie Kapinos gebrochen und kraftlos zurück. Dass es in der Sowjetgesellschaft kaum Personen gab, die nach dem Durchlittenen fragten, erscheint mir in gewisser Hinsicht mindestens ebenso bedrückend wie die Verbrechen des Stalinregimes selbst.

Wenn in der Historiografie über den Stalinismus bis heute die Stalinsche Selbstbeschreibung dominiert, so hat dies auch etwas mit der Art der Funde in den Archiven zu tun. Dieses vermeintlich objektive Material spricht die Sprache der Verbrecher. Und die Historiker, die unkritisch in den Archiven nach der Wahrheit suchen, reproduzieren bis auf den heutigen Tag diese Selbstinterpretation. So begrüßenswert die heutigen Ansätze sind, nach Selbstzeugnissen zu suchen, so gefährlich ist es zu glauben, diese seien objektive Quellen für das Geschehene. Demgegenüber vermag der Artikel von Lachno die für die Beschäftigung mit der Stalinzeit angemessene Betroffenheit zu vermitteln.

 



[1] Essay zur Quelle Nr. 5.8, I. Lachno: Der grausame Preis. Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos (1988).

 


Literaturhinweise:
  • Baberowski, Jörg, Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 135-208
  • Conquest, Robert, The Great Terror. A Reassessment, New York 1990
  • Getty, John Arch; Manning, Roberta T. (Hg.), Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993
  • Merl, Stephan, Bilanz der Unterwerfung – die soziale und ökonomische Reorganisation des Dorfes, in: Hildermeier, Manfred (Hg.), Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, München 1998, S. 119-145
  • Ders., Das System der Zwangsarbeit und die Opferzahl im Stalinismus, in: GWU 46 (1995), S. 277-305
Quelle zum Essay
Glasnost' und die gesellschaftliche Aufarbeitung des stalinistischen Terrors.
( 2006 )
Zitation
Жестокой ценой Правда, 23 декабря 1988, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28313>.
Navigation